Raúl Cañibano ist ein kubanischer Fotograf. Er ist genau das: ein Fotograf und ein Kubaner, der die Welt ansieht, versteht, sie anspricht und sie natürlich durch Sucher und Objektiv seiner Kamera abbildet. Aus dieser Beziehung zu seinem Umfeld ist sein Werk entstanden. Der kubanische Fotograf Raúl Cañibano gibt nicht vor, „das Kubanische“ zu zeigen oder zu erklären. Er will uns auf die Spur zu Haltungen und Ausdrucksweisen setzen, die er in diesem Ozean des Kubaseins oder der Kubanität sieht, findet, festhält. Wie eröffnete sich Cañibano diese Möglichkeit? Wie kam er zu dieser ständigen Praxis des Suchens und Festhaltens dessen, was das Seine ist? Eben erst in der Reife seines Lebens angekommen (geboren ist er 1961), kann er nach einem bemerkenswerten beruflichen Werdegang doch längst eine große kreative Könnerschaft vorweisen. Cañibano; der über keinerlei künstlerische Vor- bildung verfügt; beschaffte sich just in den Jahren eine Kamera, in denen das Leben in Kuba am schwersten war – den neunziger Jahren, als die Insel nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Europa allein gelassen war und in Armut bis hin zur extremen Verelendung versank. Und vielleicht, weil er mangels akademischer Ausbildung keine festgefügte ästhetische Vorstellung hatte, begann er, seine eigene Ästhetik zu entwickeln, die sich auf die beiden göttlichen Gaben gründet; die ihm zu eigen sind: Talent und Sensibilität. Und auf seine künstlerische Intuition, die er durch seine Arbeit entdecken sollte. Ein Zug seiner Persönlichkeit; der wohl seine innerste Berufung definierte und bestimmt, ist die Schüchternheit; die ihn als Individuum ausmacht und die ihm Schwierigkeiten bereitet, die Beziehung zu dieser Welt mit dem Mittel zu pflegen, zu dem wir Menschen zumeist greifen: mit Worten. Aber die Welt war da, vor seinen Augen, und Cañibano begann mit der Fotokamera das auszudrücken; was diese Welt in ihm hervorbrachte, seine Sensibilität sichtbar zu machen und sich das Seine anzueignen. Cañibano machte es sich zur Aufgabe, Kuba zu fotografieren, vielleicht ohne zu wissen, wohin es ging, aber mit einem Gefühl für den richtigen Weg: geleitet von dem, was für ihn die möglichen Bilder seines Landes und mehr noch der Menschen waren, die in ihm leben. Heute, nach dreißig Jahren künstlerischer Arbeit, kann Raúl Cañibano als Fotograf „des Kubanischen“ gelten. Ohne Zweifel als einer der bemerkenswertesten seiner Generation. In seinen meistbeachteten Fotoserien bewegt sich der Künstler in Kontexten, in denen er den Ausdruck einer Identität; vor allem aber der ewigen ergreifenden menschlichen Dramen sieht: Glaube, Alter, Tod, Spiel, Zärtlichkeit; Liebe, Furcht, das Verlangen nach Schönheit. Deshalb findet man auf seinen Bildern Wesen von einer Echtheit, die uns nie manipuliert oder gekünstelt; sondern aus dem Leben gestohlen erscheint. Und so ziehen an uns Bauern vorbei (kubanische Guajiros), Alte, Kinder, Liebende, Gläubige. Alle zeigen sich, wie sie sind, liefern sich – auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind – dem Blick des Künstlers ganz einfach in ihrer komplexen Existenz aus, erlauben uns den Blick in ihr Inneres und enthüllen so den Menschen in ihnen. Um ihr Bild zu konkretisieren, braucht Cañibano nur sie selbst und ein bisschen Licht. Nicht mehr und nicht weniger.
ISBN: 978-3-903101-80-7