Der Leser glaubt, stets mitten im Geschehen zu sein. Der Autor nimmt ihn mit auf Gipfeltouren, bei denen er ungewöhnlichen Menschen begegnet. Für den Corno di Cavento in Norditalien, wo vor 100 Jahren ein Gebirgskrieg tobte, baut Giovanni Pellizzari ein Gedenkkreuz aus Eisenstangen und Stacheldraht, ziert die Arme mit jeweils einem Soldatenhelm – und lässt im Wind eine Glocke schwingen, deren Klöppel ein Projektil von einst ist. Für die Schönfeldspitze in Österreich erschafft Anton Thuswaldner aus Kaprun eine Nachbildung der „Pietà“ von Michelangelo. Im Südtiroler Grödnertal überwirft sich Ivan Lardschneider mit fast dem ganzen Dorf Wolkenstein, weil er für ein Kreuz auf dem Piz Miara mit dem traditionellen Stil der heimischen Holzschnitzer bricht. In den Gipfelkreuzen der Alpen stecken oft menschliche Dramen, der Leser folgt ihnen Schritt für Schritt. Auf dem sturmumtosten Rophaien am Urner See scheitern Männer aus Flüelen 2017 mit dem lebensgefährlichen Versuch, am Schweizer Nationalfeiertag das Monument durch die Nacht leuchten zu lassen. Auf dem Langkofel in den Dolomiten wird Bergführer Toni Demetz 1952 vom Blitz getroffen; sein Vater, der ihn retten will, findet ihn leblos im Schnee, die Augen starr zum Himmel gerichtet – zwei Jahre danach kniet Johannes Demetz gebrochen vor einem Kreuz für seinen toten Sohn. Der Leser streift durch 200 Jahre europäische Geschichte. Er trifft auf Figuren, die mit Gipfelkreuzen politische Signale senden. Erzherzog Johann macht 1823 die Weihe des Erzberg-Kreuzes in der Steiermark zu einer glanzvollen Wallfahrt, um die Leute für seine Reformideen zu gewinnen. Papst Leo XIII. lässt 1901 auf dem Monte Musinè westlich von Turin ein Monument errichten, das an den legendären Sieg des römischen Kaisers Konstantin „im Zeichen des Kreuzes“ erinnert – der Pontifex will Italiens Berge mit christlichen Symbolen besetzen. Der Gemeinderat von Wackersberg in Oberbayern lässt, vom Nazi-Taumel erfasst, 1933 auf dem Heigelkopf ein Hakenkreuz aufstellen – der unselige Name „Hitlerberg“ geistert bis heute durch das Internet. Die 100 Kapitel, die Hans-Joachim Löwer recherchierte, sind alle im Präsens geschrieben, selbst wenn sie tief in der Vergangenheit spielen. Nie zuvor hat ein Buch so zeitnah und umfassend beschrieben, welche Schicksale und Gedanken in den Gipfelkreuzen der Alpen stecken.
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