Darf eine Frau ihre Leibesfrucht abtreiben? Muss der Arzt, der eine Abtreibung vornimmt, dafür bestraft werden? Kommt es dabei vielleicht entscheidend auf das Alter der Leibesfrucht an? Macht es einen Unterschied, ob die Leibesfrucht einen Schaden aufweist und sich deshalb zu einem Kind mit einer Behinderung entwickeln wird? Muss es verboten sein, die Übertragung eines künstlich erzeugten Embryos in die Gebärmutter der Frau davon abhängig zu machen, ob er den Gesundheitstest einer vorausgehenden Präimplantationsdiagnostik (PID) erfolgreich bestanden hat? Darf die Wissenschaft Embryonen zum Zweck therapeutischer Forschung erzeugen und anschließend vernichten? Dies sind einige der den Lebensschutz betreffenden Fragen, die derzeit in unserer Gesellschaft zwar auf die eine oder andere Weise rechtlich geregelt, politisch wie auch ethisch aber außerordentlich umstritten sind. Dabei richtet sich der Streit in erster Linie gerade darauf, welche Strafrechtsnormen der Staat zur allgemein verbindlichen Regelung derartiger Fragen legitimerweise erlassen darf. Einigen Bürgern gehen die derzeit geltenden Gesetze mit ihren Verboten zu weit, anderen gehen sie nicht weit genug. Genau die Frage, welche Strafrechtsnormen der Staat zum Schutz des ungeborenen Lebens erlassen soll bzw. darf, ist Thema dieses ethischen Essays, der sich von den beiden folgenden Überzeugungen leiten lässt. (1) Eine Antwort auf die verschiedenen ethischen Probleme des Lebensschutzes kann nur dann befriedigen, wenn sie in sich stimmig ist. Das bedeutet: Die Begründungen für die jeweiligen Problemlösungen dürfen einander nicht widersprechen. Wer zum Beispiel behauptet, die Embryonenforschung sei deshalb zu verbieten, weil Embryonen als menschliche Individuen Schutz verdienten, darf nicht gleichzeitig in der Abtreibungsfrage eine Antwort vertreten, die mit dieser Schutzwürdigkeit von Embryonen unvereinbar ist. Wie wir im Einzelnen sehen werden, wird gerade gegen diese für jedes rationale Denken unverzichtbare Forderung nach Stimmigkeit in ethischen Meinungsbildungen zum Lebensschutz häufig eklatant verstoßen. (2) Wir müssen die rechtsethische Diskussion um den Lebensschutz in seinen umstrittenen Aspekten so grundlegend wie möglich führen und dürfen uns nicht einfach auf unsere spontanen Intuitionen verlassen. Daraus folgt, dass wir unsere Untersuchung mit einer ganz allgemeinen Fragestellung beginnen müssen: Auf welcher ethischen Grundlage beruht der Lebensschutz? Warum soll menschliches Leben überhaupt, also auch in seinem in der Praxis unstreitigen Kernbereich, geschützt werden? Erst die Antwort auf diese Fragen kann uns ein verlässliches Kriterium für die Lösung der umstrittenen Fragen des Lebensschutzes am Beginn des Lebens an die Hand geben. Die fundamentale Frage, aus welchem Grund das menschliche Individuum denn überhaupt rechtlich zu schützen ist, ist daher alles andere als, wie manchmal unterstellt wird, Ausdruck moralischer Frivolität, die etwa gar der Aushöhlung des Lebensschutzes gewisser Individuen oder Minderheiten in der Praxis dient. Die ausdrückliche Thematisierung und Beantwortung dieser Frage ist vielmehr die philosophisch-ethisch unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass die Antworten auf die Frage nach dem Lebensschutz auch dort, wo er umstritten ist, nicht unbegründet in der Luft hängen. Nicht nur die gewöhnliche Abtreibung, sondern ebenso die Praktiken der PID und der Embryonenforschung verstoßen gegen das Lebensrecht des Embryos – falls ihm dieses Menschenrecht auf Leben bereits zusteht. Wenn man hiervon ausgeht, müssen diese Handlungen ohne Unterschied, wie der Vatikan mehrfach zu Recht betont hat, in ihrer prinzipiellen Strafwürdigkeit auf eine Stufe mit dem ‚Kindesmord‘ gestellt werden. Jeder, der zu diesen Handlungen ethisch Stellung nehmen will, hat bei realistischer Betrachtung nur die folgende Alternative. Entweder er vertritt die Position des Lebensrechtes von der Befruchtung an; dann folgen ohne weiteres die genannten Konsequenzen. Allerdings muss er sich dann der Aufgabe stellen, seine Position zum Lebensrecht als solche zu begründen. Oder er vertritt die Position des Lebensrechtes von der Geburt an. Dann ist er mit zwei Aufgaben gleichermaßen konfrontiert. Erstens muss er seine Position zum Lebensrecht als solche begründen; und zweitens muss er die Zulässigkeit der genannten Handlungen im Blick auf die dem Embryo jedenfalls zukommende Schutzwürdigkeit unter Abwägung der betroffenen Interessen im Einzelnen erörtern. Dass auch unter dieser Voraussetzung die genannten Handlungen sich ohne Unterschied und ohne Einschränkung als strafwürdig erweisen lassen, ist dabei äußerst unwahrscheinlich. So oder so ist daher die Frage nach dem Beginn des Lebensrechtes nicht nur eine akademische Frage, sondern gerade in praktischer Hinsicht von zentraler Bedeutung. Es zeugt von Unredlichkeit oder Oberflächlichkeit, dieser Frage auszuweichen, sie zu verwischen oder sie von Fall zu Fall je nach gewünschtem Ergebnis unterschiedlich zu beantworten.
ISBN: 978-3-942393-62-1