Wenn Nietzsche in seiner II. Unzeitgemäßen Betrachtung nach dem Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben fragt, so geht er dabei – wie Heidegger in seiner Auslegung dieser Schrift im Seminar vom Wintersemester 1938/39 zeigt – von einem zweideutigen Lebensbegriff aus. ‚Leben‘ meint hier zum einen das Seiende im Ganzen als All-Leben und zum anderen in betontem Sinne das menschliche Leben. Vor diesem Hintergrund vergleicht Nietzsche den historischen Bezug des Menschen zur Vergangenheit mit der Gegenwartsbezogenheit des Tieres. Den Maßstab bildet hierbei das Leben im weiteren Sinne, an dem speziell die Bedeutung der Historie für das menschliche Leben abgeschätzt werden soll. Allein – das ist die Grundfrage, die Heidegger daraufhin stellt: Läßt sich die Historie in dieser Weise mit dem Leben als solchem verrechnen? Wer oder was ist denn der Mensch? Ist er – wie Nietzsche später sagt – das ’noch nicht festgestellte Tier‘, das sein Leben mittels der verschiedenen Arten der Historie (der monumentalischen, antiquarischen, kritischen) sowohl steigern und erhöhen als auch schwächen kann? Oder ist er nicht vielmehr dasjenige Seiende, das sich durch Erinnern und Vergessen zum Leben ‚verhält‘, gerade weil er nicht (nur) als animal rationale ein auf grenzenlose Macht- und Lebenssteigerung ausseiendes ‚Raubtier‘ ist, sondern ein Wesen, das inständig in der Wahrheit des Seins steht, und worin das ‚Leben‘ in seiner Mehrdeutigkeit als Welt, Mensch, Natur, d.h. als ‚Seiendes im Ganzen‘ allererst geschichtlich erschlossen wird? Diese Frage ist, wie Heidegger andeutet, nicht zuletzt für die seinsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem ‚Willen zur Macht‘ des späten Nietzsche von zentraler Bedeutung.
ISBN: 978-3-465-03286-1